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DNA von Dennis Kelly - taz vom 13. September 2010

 

Brutale Wirklichkeit

THEATER Das Moks eröffnet seine Saison erstmals im Schauspielhaus und richtet sich mit der Koproduktion "DNA" von Regisseur Michael Talke keineswegs ausschließlich an ein jüngeres Publikum

Es ist nicht das erste Mal, dass Regisseur Michael Talke in so genannten großen Häusern überzeugt. Es ist auch nicht das erste Mal, dass das "kleine" Moks im "großen" Schauspielhaus aufführt. Doch mit "DNA" von Dennis Kelly eröffnet die Kinder- und Jugendsparte, deren Leiterin Rebecca Hohmann derzeit zum Führungsquintett des intendantenlosen Theaters gehört, erstmals seine Saison im Schauspielhaus. Die Inszenierung muss sich keineswegs verstecken. Auch nicht vor jenen, die beim Stichwort Nachwuchstheater traditionell die Nase rümpfen, es irgendwie doch als "nicht richtig" abtun.

Gut, man könnte sagen: Die Geschichte ist ein bisschen konstruiert. Aber andererseits: Als das Stück 2007 in London Premiere hatte, da machte gerade die Nachricht Schlagzeilen, dass ein paar Jugendliche einen Jungen stundenlang gefoltert und schließlich ermordet hatten. So ähnlich beginnt es auch hier, auch wenn die eigentliche Tat gar nicht Thema des Stückes ist. Eine Clique Jugendlicher, nicht im engeren Sinne eine "Gang" zu nennen, hat den Außenseiter Adam, der auch dazu gehören wollte, zu Mutproben gezwungen. Und er ist, so glauben sie, dabei tödlich verunglückt. Sie machen einen Plan, um von ihrer Schuld, ihrer Verantwortung abzulenken. Der geht besser auf als gedacht, und wie selbstverständlich dreht sich die Spirale aus erfolgreicher Vertuschung und fortgesetzter Lüge weiter, bis schließlich Adam wieder auftaucht. Und sich die Frage nach Leben oder Tod stellt, nach Konsequenz oder Verantwortung, nach Selbstbetrug oder Ehrlichkeit. Die Frage, was wichtiger ist: das Leben jedes Einzelnen oder das Glück Aller.

Es ist ein zynisches und keineswegs realitätsfernes Stück über die Dynamik von Gruppen und ihre Hierarchien, über Eigenverantwortung und die Rolle des Einzelnen in der Gesellschaft. Es wirft Fragen auf, ohne ein Antwort geben zu können, ja: zu wollen. "Ich fürchte, es gibt keine Grundaussage oder ,Message' für das Publikum", hat Kelly einmal über seinen Text gesagt. Was nicht heißt, dass Talkes Inszenierung ganz ohne den erhobenen Zeigefinger auskommt. Von Talke waren in Bremen zuletzt die Moks-Produktionen "Bonnie und Clyde" und "Ich, Peer Gynt" zu sehen, zuvor, im Schauspielhaus, Klassiker von Kleist über Schiller bis Brecht. Für "DNA" hat er das Moks-Ensemble mit den KollegInnen der Schauspielsparte sowie Studierenden der Hochschule für Musik und Theater Hannover zusammengebracht, alles in allem elf Leute, die ein durchweg überzeugendes Team bilden und eine geschlossene Leistung abliefern. Eine Kooperation, die hoffen lässt. Für das Bühnenbild, das geschickt zwischen Schulhof- und Waldflair zu variieren vermag, aber auch für die wohl dosiert eingesetzten Videos ist Iris Holstein verantwortlich, die erstmals für das Moks arbeitete.

Spielerisch glänzen sowohl das anfängliche Alpha-Männchen John Tate (Phillip Michael Börner) als auch sein Nachfolger Phil (Christoph Rinke), der zunächst nur ein cleverer, aber introvertierter Underdog ist. Oder Leah (Anna-Lena Doll), das personifizierte gute Gewissen und Cathy (Lisa Marie Fix) sowie Brian (Maike Jüttendonk), die sich beide für die böse Sache einspannen lassen. Und so weiter. Nur an manchen Stellen lässt Talke die Figuren seine Ideen so oft wiederholen, bis daraus ermüdende Längen werden. Gerade das etwas clowneske Duo Mark (Parbet Chugh) und Jan (Walter Schmuck) muss darunter leiden. Und das Premieren-Publikum im ausverkauften Schauspielhaus? War begeistert. JAN ZIER